Mein Patenkind kann jetzt Fahrrad fahren. Was zum..? Gestern ist er erst geschlüpft, heute kann er schon Fahrrad fahren, morgen zieht er aus und wird flügge? Ich weiß, ich weiß, wie abgedroschen,
aber hey, ich werde in ein paar Tagen 28 (holy guacamole), da darf man auch ein Wenig altklug tun. Der Sommer ist vorbei, die ersten Blätter färben sich rot und braun und orange und fallen zu
Boden, wirbeln im nasskalten Oktoberregen umher und der Himmel hängt mit grauen Wolken bedrohlich nah über den eingezogenen Köpfen. Ich mag das nicht so gern, ich habe es lieber warm, schwitze
viel lieber als dass ich friere. Und man begibt sich mental schon auf eine Abschiedsreise durch das Jahr, lässt es Revue passieren, wälzt seine Fortschritte und Misserfolge. 2019 ist gerannt, wie
von der Tarantel gestochen, über Stock und Stein gehetzt, keine Sekunde still gestanden. Geht es nur mir so oder habt ihr auch das Gefühl, dass dieses Jahr wieder besonders ereignisreich war? Den
Sommer über habe ich nur gearbeitet und saß in der Uni, dieses Semester hat es zur Abwechslung mal wieder Spaß gemacht, Studierende zu sein. Schwimmbad kam da zwar zu kurz, oder Ausflüge zu Seen,
Strandspaziergänge in Holland auch, aber ich habe einen Haufen neuer Leute kennengelernt, coole Menschen, die mir neuen Input geben.
Und ich bin verreist. Dieses Jahr so viel wie die letzten fünf nicht zusammengenommen. Ich bin halbwegs spontan mit mehr oder weniger fremden Menschen übers Wochenende unterwegs gewesen – ohne
mich zu übergeben. Premiere seit der Klapse. Sieben Jahre lebe ich nun mit dem Wissen, einen Drachen als Mitbewohner zu haben, der mich öfters als mir lieb ist zu Boden schreit und auf mir
herumtrampelt. Und seit sieben Jahren ist das deutlichste Symptom dieses Drachenkampfes die Kotzerei. Nicht gewollt, nicht herbeigeführt, ich muss mich einfach die gaaanze Zeit übergeben. Und
nach sieben Jahren habe ich es geschafft, 56 Stunden mit anderen Menschen in einem wirklich umwerfend schönen Landhaus zu verbringen, mit Zwischenstopp in Hamburg inklusive Party all night, ohne
den unangenehmen Moment, in dem ich den Tisch Richtung Toilette verlasse und alle wissen was abgeht, egal wie viel Mühe ich mir mit einem Pokerface gebe. Dieses scheiß Symptom hat mir schon so
manchen Abend ruiniert, glaubt mir, egal wie gut ich mich vorher versucht habe vorzubereiten. Aber nach sieben Jahren war es soweit. Ich war sogar das ganze Wochenende lang ich selber. Ich habe
fast gar nicht darüber nachgedacht, wie ich mich verhalten muss, was die anderen von mir denken, ich habe es einfach genossen, dort zu sein. Sieben Jahre habe ich darauf gewartet. Und
sieben Jahre sind lang, da schwindet die Hoffnung schon ein Bisschen, das muss ich zugeben. Aber es ist passiert und ich war so verdammt glücklich. Bin es noch, darüber, dass ich mir etwas
zutrauen kann. Dass ich nicht immer das Sorgenkind bin. Denn das bin ich eh schon immer gewesen aber seit diesem offiziellen Ding mit der Depression verständlicher Weise noch ein Stück mehr. Und
dann hat der Drache in schlechten Zeiten über mich gelacht, hat mich spüren lassen, dass ich nichts kann und keinen Schritt in die falsche Richtung wagen darf, also lieber gar keine Schritte
wagen sollte. Nirgendwohin. Und ich hatte das Gefühl stehen zu bleiben, aus Angst Fehler zu machen, aus Angst den Drachen zu verärgern und dass er ausrastet und um sich schlägt und ich wieder die
Scherben aufsammeln muss. Diese verdammte Angst. Ich bin so ein Angsthase. Aber dann kam Bremen. Und danach kam London.
Wir haben meinem Bruderherz zum 30. (OMG soo ooold) eine Reise dorthin geschenkt. Wir, das sind Paps und Ehefrau, Freund und ich. Wir im August also als Patchworkfamily nach London. Wie
praktisch, dass mein bester Brudi auf Lebenszeit dort bei einer bekannten Videoplattform arbeitet und ich mich nach dem Zweitages-Date zu fünft und dann zwei Tagen zu dritt (Kids only) noch für
zwei Tage bei ihm einzecken konnte. Dieser ganze Trip, das Geschenk, das war meine Idee und irgendwie kam es, dass ich zur Reiseplanerin dieses Kurztrips wurde – inklusive Hotelvorauswahl, Flüge
buchen, Sehenswürdigkeiten abchecken. Kleine Randnotiz: Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch nie einen Flug gebucht. Noch nie ein AirBnB gebucht. Noch nie für mich allein und schon gar nicht
mit der Verantwortung für andere. ich war unfuckingfassbar nervös und aufgeregt, ich habe tagelang Flüge verglichen, Hotels gegoogelt, Reiseblogs gelesen. Ich wollte bloß niemanden enttäuschen.
Und ich war so sicher, dass irgendetwas am Ende nicht klappen würde. Aber wir sind alle in Großbritannien angekommen und heile nach Hause zurückgekehrt. Kein Handgepäck war nicht gebucht, kein
Zugticket nicht entwertet, kein Hotel eine Bruchbude. Und nach vier Tagen Familienglück, nachdem ich die erste Nacht in der WG von Igor geschlafen hatte, mich alleine im Victoria Park in die
Sonne gelegt hatte, da kam es über mich: Ich war stolz.
Andere sind schon mit 18 um die Welt gereist, haben auf fremden Kontinenten Roller geliehen oder sind in Sandalen südamerikanische Berge hinaufgeklettert – ich nicht. Ich weiß vielleicht wie man
ein Restaurant führt, habe schon auf Bühnen gestanden, aber Verreisen ist wirklich nicht meine Stärke. Zweimal bin ich vor London auf eigene Faust aus der Ferne nach Hause gekommen. Einmal aus
Belgien, dort verpasste ich meinen Anschlusszug in Brüssel und war 24 Stunden nicht erreichbar, weil ich mich mit 14 nicht traute, mein Handy irgendwo aufzuladen. Das zweite Mal kam ich nach vier
Tagen Mallorca mit einer Salmonellenvergiftung wieder, die mich in der kurzen Zeit etliche Kilos und all meine Kraft gekostet hatte. Ich wusste also aus Erfahrung, dass etwas schiefgehen
konnte, es war nicht total abwegig. Aber bis zu diesem Punkt im Park, nachdem ich allein durch Londons Osten gestreift war, immer nur der Nase nach, war alles gut gegangen. Und ich fühlte
mich seit langem das erste Mal wieder so richtig erwachsen. In der Lage, etwas zu erreichen. Für manche nur ein kleiner Schritt, für mich sind es diese vermeintlich kleinen Schritte, die zählen.
Ich habe mir so lange Zeit so wenig zugetraut, es ist schön, endlich wieder Feuer zu spüren, hoch hinaus zu wollen. Denn jeder kleine Fortschritt ist riesig, wenn man ihn denn angemessen feiert.
Ich muss nämlich ständig lernen, dass ich meine Grenzen übertrete, ohne Absicht zwar, aber doch passiert es. Zu viel Stress, Konflikte, Sorgen, Schlafmangel, Albträume, Ängste, all das sorgt für
einen wütenden Drachen, der mich als Boxsack benutzt, mich niedermacht, mein Herz einfriert und es gleichzeitig in Flammen aufgehen lässt. Und für Übelkeit. Und Dinge trotzdem zu schaffen ist
hart. Aber Dinge zu tun, ohne dass mir schlecht ist.. wow. Das ist wirklich unbezahlbar. Das hat mir das Wochenende im April ins Gedächtnis gerufen, das hat sich in London verfestigt: Es
lohnt sich, mutig zu sein. Auch wenn es nur Babysteps sind, ich weiß, die können genauso beängstigend sein. Aber einen kleinen Schritt in irgendeine Richtung zu gehen ist viel besser als
in keine zu gehen. Wie war das mit altklugen Sprüchen? Stehenbleiben bringt uns nicht weiter. Hihi.
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