Achtsamkeit - keine Angst, was zu verpassen

Ich wurde vor kurzem gefragt, was denn „Achtsamkeit“ für mich bedeutet.
Meine Antwort war recht knapp, sie kam direkt: Nein sagen.
Was sagt unser aller Freund Wikipedia?

Achtsamkeit (engl. mindfulness) ist ein Zustand von Geistesgegenwart, in dem ein Mensch hellwach die gegenwärtige Verfasstheit seiner direkten Umwelt, seines Körpers und seines Gemüts erfährt, ohne von GedankenströmenErinnerungenPhantasien oder starken Emotionen abgelenkt zu sein, ohne darüber nachzudenken oder diese Wahrnehmungen zu bewerten.

Das trifft es ganz gut. Denn mein „Nein sagen“ ist die Schlussfolgerung aus hundert verschiedenen Achtsamkeitsübungen und –überlegungen, die ich in den letzten siebeneinhalb Jahren lernen durfte.
Manchmal bedeutet Achtsamkeit für mich aber auch einen kurzen Moment der Stille zwischen Arbeit und einer Verabredung. Da frage ich nach, ob es meinem tiefsten Innern gut genug geht, nach sieben Stunden Hustlerei noch ernste, intime, offene Gespräche zu führen. Ab und zu bedeutet Achtsamkeit für mich zusätzlich, meinen Drachen um fünf Minuten Ruhe zu bitten, damit ich meine Gedanken hören kann, um herauszufinden, ob seinem Geschrei bloß Angst zugrunde liegt oder doch berechtigte Einwände gegen mein Handeln.
Achtsamkeit ist also das Betrachten seiner Verfassung in diesem Moment, ohne dies zu be- oder verurteilen.

Aber wieso muss ich achtsam sein? Wieso brauche ich die Reflexion, die Rückfragen an meinen Drachen, mein inneres Kind, mein Herz, meinen Geist?
Weil ich es hart verschissen hab – eine ganz schön lange Zeit. Ich war sehr lange nicht nur unachtsam, ich war richtig gemein zu mir selber und dann kam der Drache und dann war er für uns zwei gemeinsam mega gemein zu mir. Ist es heute ab und zu noch.
Aber ich habe gelernt, anders mit mir umzugehen, habe akzeptiert, dass ich meine Bedürfnisse und Gefühle ernst nehmen muss, damit der Drache friedlich ist und nicht in mir randaliert. Und zwar indem ich achtsam bin. Indem ich mir die Zeit  - und vor allem Ruhe - nehme, zu reflektieren, zu hinterfragen, abzuwägen. Denn mir fiel es immer wirklich schwer, achtsam zu sein. Zeit für mich bedeutete weniger Zeit für andere was wiederum bedeutete, dass sie mich vergessen, denn ich war ja nicht permanent präsent um ihnen zu zeigen, wie liebenswert ich doch bin. Logisch, oder? Jaaa..nein. Also ja, dieser Gedanke war damals klar wie Kloßbrühe für mich, denn in meinem Kopf sind die Arschlochgeisterfreunde des Drachens umhergeschwirrt und haben mich diesen Bullshit denken lassen. Aber nein, denn das ist es: Bullshit. Schwachsinn. Depressionshurensohnquatsch. Aber bevor ich das wusste hatte ich eben diese furchtbare Angst, etwas zu verpassen. Nicht dabei zu sein. Vergessen zu werden. Nicht mehr geliebt zu werden. Und statt mich Zuhause aufs Sofa zu hauen und einfach eine Runde Welcher-Schuh-drückt-heute mit Mr. Unangenehm Drachenzahn zu zocken - erwachsen ausgedrückt: statt achtsam zu sein -  war ich immer parat. Immer da, immer dabei. Und Achtsamkeit war mir so fern wie gutes Benehmen Donald Trump.

Aber jetzt, jetzt kenne ich Achtsamkeit. Jetzt weiß ich sie zu schätzen. Jetzt genieße ich es, dass ich sie trainieren kann wie einen Muskel, muscle memory gibt’s sogar bei ihr. Man verlernt sie nicht mehr einfach so, wenn man sie einmal in sein Leben integriert hat. Weil sie so verdammt gut tut. Es tut gut, wenn ich abends innehalte und mich selber frage, was grade los ist, ob ich etwas vor dem Schlafen lieber genauer betrachten, überdenken sollte, bevor der Drache nachts die Möglichkeit hat, sich daran aufzugeilen und es als Brandbeschleuniger zu nutzen. Denn dadurch fühlt sich der Drache beachtet, ich kann auf meine Gefühle und Bedürfnisse Acht geben, mich ihnen zuwenden. Und dadurch schläft der Drache viel häufiger, viel weniger schwarzer Seelenmatsch lässt mich gleichzeitig erfrieren und in Flammen stehen. Viel seltener wird mir schlecht, viel häufiger habe ich gute Tage.

Nicht jeder braucht abends dafür seine Zeit. Vielleicht ist es der Morgen im Auto auf dem Weg zur Arbeit. Manche Menschen lernen Achtsamkeit und verinnerlichen sie sofort. Manche Menschen haben ein sehr turbulentes Leben und brauchen Achtsamkeit gar nicht. Andere hingegen brauchen mehr Zeit für ihre Arten von Achtsamkeit, andere weniger. Und sicherlich funktioniert bei allen niedergeschriebenen Theorien nicht jede Form von Achtsamkeit wie ein Schema F. Aber ich finde es lohnt sich, auszuprobieren, ob Achtsamkeit nicht eine Bereicherung für sich darstellt. Seitdem ich achtsam mit mir selber umgehe, habe ich das Gefühl mehr zu leben. Und mehr leben lohnt sich immer. 

 

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Chisy (Dienstag, 03 März 2020 23:16)

    Sehr inspirierend!