Ausnahmezustand

 

#staythefuckhome brüllt es mir aus meinem Smartphonedisplay entgegen. Ich aktiviere den Flugmodus und laufe an den Gründerzeithäusern vorbei. Mal eilt mein Schatten mir voraus, mal hänge ich ihn fast ab. Mein Herz pocht wie verrückt, die Ameisen unter der Haut haben wieder Feuer gefangen. Das vierte Mal heute. Ich atme ein, atme aus. A-potheke. P-potheke. O-poth.. – Atmen nicht vergessen.
#staythefuckhome.
Ich bleibe stehen, schließe die Augen und lasse die Tränen jetzt für mich laufen. Versager-Kiki. Eine Pandemie breitet sich aus und mir fällt die Decke Zuhause auf den Kopf.
Aber es ging nicht mehr, ich konnte nicht mehr Zuhause sein. Nach dem Aufstehen, einem Kaffee, der Job-Suche, einem Telefonat und fast zwei Stunden Yoga war der Tag immer noch nicht vorbei. Auf meinem Bett hockend machte sich diese Beklemmung in mir breit, die mir dann in den Kopf steigt und mich fast wahnsinnig werden lässt.
Aber #staythefuckhome.
Wenn es mir schlecht geht sind drei oder fünf Tage Zuhause im Bett verbringen kein Problem, da freue ich mich über soziale Distanz, in mir ist es dann so laut, dass mich das Alleinsein etwas beruhigt.
Aber jetzt ist es nicht laut in mir, jetzt habe ich Verpflichtungen, habe mir einen Plan gemacht.
Aber dieser Plan wurde ohne meinen Einfluss umgeworfen. Ich fühle mich haltlos.
Der so mühsam antrainierte Rhythmus war zur Routine geworden, hatte meinen Alltag strukturiert. Jetzt fehlt diese Struktur. Für viele fühlt es sich an wie Urlaub, wie ein immerwährender Sonntag. Für mich ist gerade Chaos. Und die Möglichkeiten, die Struktur selbst wieder herzustellen beschränken sich auf wenige.
Es herrscht eine Pandemie.
#staythefuckhome.

Ähnlich wie mir geht es vielen.
Wir sind mit der vielen Zeit gerade überfordert, gewohnte Strukturen müssen wir verabschieden und uns neue antrainieren. Das funktioniert nicht von heute auf morgen. Soziale Kontakte sind unfassbar wichtig, man darf den jetzt fehlenden Körperkontakt nicht unterschätzen. Ja, #sozialdistancing ist gerade super wichtig, um das Gesundheitssystem nicht zu überfordern und Risikogruppen zu schützen. Aber passt dabei auf euch und auf einander auf. Führt vermehrt Telefonate, auch wenn ihr das normalerweise ungern tut. Aktiviert die Videofunktion, um eure Liebsten zu sehen, auch das schüttet Hormone aus und schützt vor Vereinsamung. Wenn euch die Decke auf den Kopf fällt: macht einen Spaziergang. Keinen Gang-Shit, keine gruppenhafte Versammlung, geht allein oder zu zweit in die Natur, lasst die Sonne ein paar Minuten in euer Herz. Tankt Leben. Denn auch wenn es sich gerade anfühlt, als hätte jemand den Alltag auf „Pause“ gedrückt, so läuft es doch immer weiter und weiter. Das Aushalten ist das schwierigste, ich weiß. Aber man kann es zumindest gemeinsam aushalten. Und wenn dich die momentane Lage nicht aus der Ruhe bringt: Wunderbar, freut mich riesig, wirklich. Aber anderen geht es nicht so, für die bedeutet #staythefuckhome all day long Panikattacken. Für uns ist gerade nicht Urlaub, für uns ist Ausnahmezustand. Und Angst haben ist da in Ordnung. Angst haben ist immer okay.

 

Aber bei Angst gilt:
1. Gib zu, dass du Angst hast.
2. Informiere dich nur so viel wie nötig und bei geeigneten Quellen.
3. Sprich mit anderen über deine Sorgen.
4. Du bist auch hier gerade nicht allein.

5. Überlege dir deine Strategien, dich abzulenken und aufzuheitern

 

Wie so oft geht es nicht um Lösungen, es geht um Verständnis. Vor allem in Krisenzeiten – sind es nun private oder gesellschaftliche – brauchen wir Verständnis für einander. Auch wenn du es anders siehst, dich anders fühlst, es nicht verstehst: Hab Verständnis.

 

Also, #staythefuckhome - solange es für dich aushaltbar ist.
 

 

Foto © Tom Lanzrath 
 

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