„Na, Schönheit“, sagt er ironisch und schnaubt mir seinen vergammelten Atem entgegen.
Ich habe erst eine Sekunde die Augen auf und schon ist er da. Lächelt mir grausam ins Gesicht.
Die letzten Tage habe ich echt mein Bestes gegeben. Ich habe versucht, gut zu mir zu sein, habe mir Pausen gegönnt, mich selbst motiviert mit Gutzureden und einem Fitnessplan. Der Drache hat
unruhig geschlafen, einige Zeit hatte er sich schon hin- und hergewälzt. Ist ja auch viel los, das ganze Jahr ist schwer auszuhalten. Und dann kam mein Geburtstag, der wieder mal ein Fest der
unendlichen Liebe war, aber auch ein Anlass zum Zurückblicken auf die letzten 52 Wochen und was da so passiert ist – aber vor allem auf das, was eben nicht passiert ist. Und ahhh, welch
gefundenes Fressen für den Drachen, der sich an fast nichts lieber labt als an meinen Selbstzweifeln und der fantastischen Vorstellung, ich enttäuschte die Welt. Doch selbst unter diesen
erschwerten Bedingungen, des Drachens Leibgericht steht verzehrbereit in greifbarer Nähe, schaffte ich es recht gut, mit leisem Gesäusel und genügend Achtsamkeit, die Echse im Schlummerland zu
lassen. Unruhig zwar und murrend und zuckend - aber schlafend.
Nur gegen eines kam ich dann doch nicht an. Gegen Trauer, Trauer war und ist und bleibt wohl auch mein Kryptonit. Aber wenn ein geliebtes Familienmitglied stirbt dann ist man traurig. Jemanden
für immer zu verlieren, diese Form von Trauer, ist einmalig. Allumfassend und bodenlos. Und sie macht mich immer noch fertig, auch nach all den Jahren Therapie, Achtsamkeit, Selbsthilfe und
-optimierung nimmt sie mich gefangen und schmettert mich zu Boden. Ich weiß zwar jetzt, dass ich nicht in ihr ertrinke, aber sie macht mich dennoch bewegungslos, weil sie so schmerzt. Unter
meiner Haut kriechen eine Billionen Feuerameisen, in meinen Knochen hämmern Bohrer, mein Kopf ist gefüllt mit Sirenen und Feuerwerkskörpern. Alles tut mir weh und das Atmen fällt mir
schwer.
Die Nachricht über das Ableben meines Großvaters kam zwar nicht unerwartet aber doch überraschend. Ich spürte beim Realisieren die Alarmglocken anspringen und kurze Zeit später war er hellwach.
Der Drache leckte sich die triefenden Lefzen und streckte sich. Okay, cool bleiben. Ein Wenig auf ihn einreden, ihn beruhigen, ja die Trauer ist da, ja gerade fühlt sich alles echt beschissen an
aber chill, Großer, chill. Bittebitte flipp nicht aus…
Durchatmen.
Ich fühlte mich wie eine tickende Zeitbombe, den Zünder hielt ich selber in der Hand.
„Wann geht der Scheiß hier in die Luft?“ schrie er mich an. Ich versuchte die Fassung zu bewahren – und mein Gesicht. "Entspann dich, ich hab das im Griff, Draco. Wir reißen uns jetzt zusammen.
Morgen nehmen wir uns dann Zeit fürs traurig sein, okay? Kontrollieren das, damit nicht alles zusammenbricht. Wenn wir hier jetzt nicht vorsichtig sind, dann geht alles in die Luft." Er willigte
ein.
Am nächsten Tag begann der Lockdown Light. Was für eine Scheiße.
Ich saß mit dem Drachen bei mir auf der Terrasse, ich trank Tee, er meine Angst.
„Was ist, wenn die Arbeit wieder stoppt? So wie im März?“ fragte er mit süffisantem Lächeln. „Das wird sicher nicht passieren. Und selbst wenn, ich habe zum Glück Unterstützung. Da müssen wir uns
nicht sorgen.“ Er nickt. „Mhhhm. Und das mit der Uni? Hat ja nicht so gut geklappt, wir haben uns das anders vorgestellt.“ „Ja, ich weiß. Aber die Corona-Konsequenzen konnten wir schlecht
vorhersehen, mir geht es nicht alleine so, viele leiden gerade unter den erschwerten Bedingungen. Kein Grund jetzt in Selbsthass zu verfallen.“ „Stimmt schon, aber du bist ja schon lang dabei.
Hättest es ja wissen können. Oder etwas vorher machen. Generell kannst du da mehr machen.“ Ich merkte wie mir ein Kloß im Hals wuchs. „Hör auf damit, ich bin traurig, ich habe keine Kraft, mir
deswegen jetzt Gedanken zu machen.“ „Schön, sei traurig. Schmeckt mir. Genau wie das hier!“ Er hob die Tasse und prostete mir zu. „Auf schöne Zeiten.“
Als ich mich abends ins Bett schmiss merkte ich schon, dass ich jetzt nicht mehr alleine hier lag. Der Drache, das Monster, die schwarze Wolke, whatever, es war wieder ganz nah. Nah und groß und
laut und unbarmherzig.
„Na, Schönheit.“
Die Schwere legt sich wie eine Decke über mich, aber statt mich zu wärmen gibt sie mir nur das Gefühl von Unbeweglichkeit. Es wird kein guter Tag.
Ich kann nicht aufstehen, der Wecker klingelt zum sechsten Mal.
„Los, meld‘ dich krank. Versag auch da, das würde passen.“ Halt die Schnauze, denk nich nur. Für mehr ist mein Kopf zu neblig.
Ich stehe doch irgendwie auf, ziehe die Vorhänge zurück und sehe – Dunkelheit. „TADAAAA! November, my love, willkommen in der tollsten Jahreszeit!“ Ich reibe mir die Augen, entscheide mich gegen
einen Tränenausbruch vor dem Zähneputzen und stapfe in die Küche. Als ich die Kaffeemaschine anmache lacht er mir ins Ohr. „Geeenaauuu, wir trinken heute Kaffee“, mit Sarkasmus in der Stimme und
Schmackes in der Faust bekomme ich den ersten Haken verpasst, voll in die Magengrube. Mir wird schlecht. Nach Luft schnappend fülle ich den Wasserkocher und hänge einen Beutel Kamillentee in den
Becher. Als ich mich an ihm vobeidränge spuckt er mir ins Gesicht. „Mehr?“ Ich hab erstmal genug.
Im Bad versuche ich ihn zu besänftigen. „Wir gehen jetzt arbeiten, du kannst mitkommen, aber du musst dich zusammenreißen. Heut Abend kümmern wir uns um alles.“
Arbeit lenkt ab, das tut gut. Er lässt sich darauf ein, murmelt mir nur manchmal zu, dass es bloß eine Frage der Zeit ist, bis auch hier meine Unfähigkeit auffliegt und mein Chef mich vor die Tür
setzt.
Feierabend. Auf dem Weg zur Bahn merke ich schon das Brodeln im Bauch, im Kopf die Sirenen.
Ich stolpere bei mir die Tür rein, der Drache ist schon da, stürzt sich auf mich und greift sich mein Herz. Er drückt zu, mir stockt der Atem, ich schreie auf, er spuckt Hass und brüllt mich an:
„Was ist hier los? Du bist traurig! Opa ist tot! Oma ist tot! Corona ist da! Du warst den ganzen Sommer arbeiten, du warst nicht im Urlaub! Du hast keine Auftritte gehabt! Kannst du überhaupt
irgendwas? Du hast fast gar nicht geschrieben dieses Jahr! Weißt du noch, dass du deine Ausbildung abgebrochen hast?! Du hast dich ewig nicht bei tollen Leuten gemeldet! Du arbeitest immer noch
als Werkstudentin! Du hast keine Bachelorarbeit geschrieben! Du siehst scheiße aus! Du wohnst allein! Opa ist tot! Du bist allein! Dein Rücken ist im Arsch! Du wolltest so viel erleben dieses
Jahr! Du machst keinen Sport! Du musst zum Zahnarzt! Warum heulst du jetzt? Du wolltest die Regale bauen! Du hast nichts im Garten gemacht! Opa ist tot! Opa ist tot! Du bist scheiße, das hier ist
scheiße, ALLES IST VERFICKTE SCHEIßE!“ Er spuckt Feuer, schlägt um sich, erwischt mich mit der Pranke und schleudert mich gegen die Wand. „Ich weiß, ich weiß“, wimmere ich. „Ich finde auch gerade
alles scheiße aber all das, was du sagst, das hat nichts mit meinem Wert zu tun, das habe ich gelernt! Ich.. Ich..“ Die Worte finden ihren Weg nicht, das Tränenmeer schwemmt sie weg, was bleibt
ist Sprachlosigkeit. Ich bin so entkräftet vom Aushalten der Trauer, ich kann seinen Vorwürfen nichts entgegensetzen. Vieles davon stimmt nicht oder nur halb oder ist zumindest nicht auf mein
persönliches Versagen zurückzuführen und dennoch kann ich nichts erwidern. Ich fühle mich einfach nur schlecht, alles tut weh und ich bin so unfassbar traurig. „War das schon alles? Unentschieden
gibt's nicht, einer muss gewinnen! Heute wohl mal wieder ich.“ Die nächste Hasstirade hämmert auf mich ein. Ich heule wie ein Schlosshund, klammere mich an mir selber fest und der Drache steht
vor mir, schreit mich an und verkohlt mir den eh schon zum Bersten gefüllten Kopf. Ich fühle mich unfassbar allein. Auch ein Trick vom Drachen, mich in seine Hölle aus Negativität hinabzuziehen.
Heute lasse ich mich darauf ein, die Ohnmacht der Traurigkeit lässt keine Abwehr zu.
So liege ich da, ein Haufen Elend, schniefend und schluchzend und warte darauf, dass der Drache müde wird vom Ausrasten.
Igendwann ist es dann soweit, der Sturm legt sich. Ich bin nicht
glücklich aber leer. Eine gern gesehene Alternative zur Traurigkeit. Am nächsten Tag ist die die Beerdigung, da kann ich mit anderen gemeinsam traurig sein und muss nicht allein in der Angst vor
ihr ertrinken. Und ich kann Liebe tanken, dem Drachen zeigen, dass ich sehr wohl einen Platz auf dieser Erde habe, auf den ich gehöre und den ich nicht freiwillig räumen werde. Ich bin dankbar,
dass ich zumindest das niemals mehr vergessen werde.
Der Drache ist jetzt wieder wach, zum Einschlafen kann ich ihn gerade nicht bewegen. Dafür ist zu viel passiert, zu viel immer noch los, viel zu
viel unklar. Er schweigt, das ist sehr viel wert, aber ich darf nicht vergessen, dass er da ist, sobald ich nicht mehr achtsam bin. Er ist immer da, momentan wach und bereit.
Also wieder Babysteps, Tag für Tag.
Und das Lachen trotz allem nicht vergessen. Das lohnt sich ja.
Kommentar schreiben
Astrid (Samstag, 07 November 2020 19:04)
Schön, wieder von dir zu lesen! Auch wenn der Inhalt nicht erfreulich für dich ist. Mein aufrichtiges Beileid zu deinem Verlust!
Bitte vergiss nicht - du wirst geliebt. Du bist wichtig. Der Drache wird, früher oder später, wieder schlafen gehen. Halt durch! Und ja - lachen lohnt sich. �♥️
Leonie (Sonntag, 08 November 2020 09:16)
Kiki, du bist einfach nur toll ♥️
Wie der Text geschrieben ist und vor allem du!
Ein dicker Drücker voller Liebe aus Neckargemünd!
Mitch, Köln (Mittwoch, 11 November 2020 19:42)
Meinen ganz großen Respekt Kiki.
Auf Empfehlung einer guten Freundin hierher verirrt bzw. empfohlen worden. "Wir" alle teilen das selbe Schicksal. Mal mehr und mal weniger.
Wirklich "leicht" wie Du über das Thema sprichst und wie klar Deine Worte und Formulierungen hierzu sind. Kurzweilig und motivierend. Der Drache passt. Und weiß Gott, viele kennen ihn nur allzu gut. Klein und niedlich aber auch wild, fauchend und feuerspuckend und dazu alles zerstörend, was sich ihm dann in den Weg stellt.....
Ich wünschte, ich hätte seinerzeit ebenfalls die Möglichkeit und Hilfe und vor allem auch den Mut gehabt, sich wie Du in einer Klinik professionelle Hilfe geben zu lassen. Hätte den Weg bestimmt etwas verkürzt, an dem ich mich heute zum Glück wieder befinde.
Ein wirklich bemerkenswerter Satz und Hinweis, den ich bestätigen kann:
"Wir sind mehr als das". Soviel mehr als das...
Soviel stärker, bunter, leuchtender, fröhlicher und positiver... als dieser kleine linke "Arschlochdrache" ;-)
Ich kann ebenfalls nur jedem hier aus eigener Erfahrung raten und ans Herz legen, jede Form von Hilfe so früh wie nur möglich anzunehmen. Darüber zu sprechen. Sich Freunden, der Familie, einem Therapeuten oder Selbsthilfegruppen anzuvertrauen.
Dem Ganzen einen Namen und ein Bild geben. Ob Drache, Monster, Sumpf, Abgrund oder Schatten... was auch immer.
Sobald es einen Namen bekommt und man jemanden davon erzählt oder zum Beispiel auch der Depression ein "Bild" oder eine "Gestalt" zuteile, um so eher verliert es die scheinbare Unbesiegbarkeit durch das Unsichtbare, das nicht greifbare. Was man nicht sehe oder verstehen kann, macht den Verstand ängstlich.
Sobald man das geschafft hat, kann man sich dem "personifizierten" Bild, dieser Gestalt entgegenstellen und mit ihr arbeiten. Ihr mit dem Verstand und Vorstellung (Glauben) Einhalt gebieten. Sich mit seiner Selbst vor ihr aufbauen.
Nochmals meinen Dank, dass Du diese Seite ins Leben gerufen hast.
Und Danke für: "Wir sind soviel mehr als das"
LG Mitch, Köln