Wenn ich aufwache, versuche ich mich von aktuellen Nachrichten fernzuhalten. Keine negativen Einflüsse von außen in den ersten anderthalb
Stunden zuhause. Denn der Drache sitzt schon wartend auf der Bettkante, leckt sich die scharfen Krallen in freudiger Erwartung auf meinen Wachzustand. Im Schlaf hat er mich schon gut durch die
Gegend geprügelt, hat mir verrückte, wirre Bilder in den Kopf gehämmert, die mich schweißgebadet und verheult aufschrecken ließen. Selbst da lässt er mich gerade nicht zur Ruhe kommen.
„Puppe, du entkommst mir nie“, säuselt er in mein Ohr und wippt auf und ab, bringt meine Gedanken ins Schleudern. Drei Minuten wach und ich merke schon den sauren Geschmack der Galle im
Mund.
Während ich mich anziehe meckert er direkt über meinen Körper. Ich habe dank ihm einige Kilos verloren in den letzten Wochen, das Essen schmeckt fade und geht nur schwer runter. „Ganz schön
dürre, Kleines, und ganz schön kleine Brüste,“ höre ich mir dann an, während ich in den Harry Potter Pulli schlüpfe. „Passen aber zu deiner krummen Nase.“ Jaja, fick dich. Ich find mich
eigentlich ganz okay, auch die kleinen Brüste und die schiefe Nase, aber nach der anstrengenden Nacht bin ich viel zu müde, um etwas Gehaltvolles zu entgegnen.
„Gehen wir gleich wieder ins Büro und tun so, als könnten wir was?“ fragt er mit diesem Blick, der in mir stecken bleibt und sich anfühlt, als drückte mir jemand den Hals mit riesigen Pranken zu.
Ich mache meinen Job gut, das weiß ich, aber er sagt es mir immerimmerimmer wieder, „du bist eine Nichtskönnerin“, und ich schaffe es nicht, jedes Mal dagegen anzugehen. Also ertrage ich es,
nehme ihn mit, er bleibt ja eh an meiner Seite.
Er ist gerade immer da.
Der Arbeitsalltag gibt mir momentan Struktur, eigentlich etwas gutes. Aber wenn es Chancen auf Unsicherheit im Job gibt, stürzt er sich darauf. In Momenten, in denen ich noch vor nicht allzu
langer Zeit gelassen und selbstbewusst war, da nimmt mich der Drache jetzt auseinander. Er wirft mir vor, zu versagen und nutzt jede Gelegenheit, sich seine Bestätigung dafür zu holen. Fehler
passieren manchmal, so what. Nicht aber für ihn. „Es war klar, dass du das vergeigst, Kiki. Es war klar, dass du es nicht kannst, dass du nichts kannst. Du weiß schon, dass das den Chefs
auch auffallen wird? Alles eine der Frage der Zeit.“ Dass ich schon fast drei Jahre dort arbeite interessiert die Riesenechse nicht, Gegenargumente existieren zur Zeit keine in ihrer Welt. Alles
was ich entgegne prallt an den ledrigen Schuppen ab und landet zu ihren Füßen, mit denen sie darauf herumtrampelt und es zunichte macht. Positives festzuhalten gelingt nur mit enormen
Kraftaufwand.
Normalerweise kann ich die Drachenausraster elegant relativieren, kann ihm entgegensetzen, dass ich gut bin, dass es im Sein kein Richtig oder Falsch gibt. Aber jetzt gerade ist es nicht wie
sonst. Davon bin nicht nur ich allein betroffen, die ständige Unsicherheit, mit der wir durch den Tag gehen, weil niemand so richtig weiß, wie schlimm es mit der Pandemie noch wird oder wann ein
Ende der Einschränkungen in Sicht ist, belastet uns alle, das alles auszuhalten ist für jeden Menschen schwer. Ich hab dann halt noch so einen Wichser in meinem Herz wohnen, der nichts lieber
tut, als mir zu sagen, wie schäbig ich und meine Existenz sind. Und ich weiß, dass er damit nicht Recht hat, ich weiß, dass es dummes Gelaber ist, aber es fällt mir so schwer, mich ihm erhobenen
Hauptes entgegenzustellen. Ich habe alle Hände voll damit zu tun, die dunkle Jahreszeit auszuhalten, dann noch Corona, beschränkte Freiheiten, da bleibt am Ende keine Drachenkämpfermentalität
mehr. Da bleibt nur noch ein Häufchen Kikielend, das sich abends aufs Bett schmeißt, den Drachen mit tränenverschleierten Augen ansieht und ihn anfleht, nur für zehn Minuten mal die Klappe zu
halten. Manchmal hört er darauf. Meistens lacht er aber über mich, springt auf mir herum und ruft laut „Siehste, du armselige Memme, du bist eben doch schwach und klein und nichtig.“ Ich weiß,
dass das vorbeigeht. Und ich weiß auch, dass der Winter verschwindet und die Tage heller werden und auch, dass wir nicht für immer mit Mund-Nasen-Schutz unseren Einkauf tätigen oder dass man
irgendwann wieder mit anderen unbeschwert tanzen kann und sich selbst aussuchen darf, wann man wie viele Menschen zu sich nach Hause einlädt. Ich weiß das wirklich alles. Aber das ändert nichts
daran, dass der Drache gerade die besten Voraussetzungen hat, seine eigene Art von Party in meinem Herz zu feiern, ohne Rücksicht auf Verluste, mit viel Feuerspucken und einer ordentlichen
Portion Selbsthass für mich im Petto.
Der Drache wird nicht ewig laut und unbändig sein, auch das weiß ich. Heute bin ich nur einfach mal wieder müde vom Aushalten. Und von der Extraarbeit, die ich dank ihm habe. Und ich hatte lange
keine zwanzig Minuten mehr am Stück, in denen er ohne Ablenkung die Klappe gehalten und mich in Ruhe gelassen hat. Heute war er einfach wieder tierisch laut.
Morgen dann wieder von vorn, alles auf 0. Vielleicht verpennt er ja. Und wenn auch nur ein Wenig.
Diesen Text zu veröffentlichen fiel mir schwerer als sonst. Weil der Drache auch den scheiße findet. Es trotzdem zu tun, darum geht es
wohl.
Dranzubleiben, dazubleiben. Bis die guten Tage wieder mehr werden.
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