Der Tag der katastrophalen Überschwemmung in Westdeutschland war auch mein letzter Arbeitstag, auf den ich mich vier Wochen lang gefreut habe.
Eigentlich schon länger, denn kündigen wollte ich schon eine Weile. Aber als ich es dann endlich gemacht habe, konnte ich den allerallerletzten Tag gar nicht erwarten. Die Angst vor Veränderung hatte der Freude auf Neues schon fast die Hälfte des Raumes überlassen, natürlich würden meine Kollegin:innen mir fehlen, aber ich möchte mich weiterentwickeln, freier sein. Und da wache ich nun auf, an diesem Donnerstagmorgen, der für mich nur Gutes bereithält und sogar der Drache nickt mir nur zu von seinem hohen Ross aus, lässt mich aber gut starten.
Alle Kanäle explodieren, als ich mein Handy aus dem Flugmodus hole.
Ach du große Scheiße. Was ist da im Ahrtal passiert? Direkt um die Ecke, 35km von hier, hat ein reißender Fluss alles mit sich gerissen – egal
ob niet- und nagelfest. Es gibt fast keine Bilder mehr von richtigen Dingen, alles ist nur eine braune Masse, aus der Laternenpfähle,
Häuserdächer, Autos und Asphaltplatten herausragen. Die heftigen Regenfälle haben dafür gesorgt, dass das Wasser nirgendwohin
konnte außer nach oben, aus Flussbetten heraus, über Bachufer drüber, herein in die Ortschaften und Häuser. Menschen werden vermisst, einige mussten schon ihr Leben
lassen.
Ich spüre Ohnmacht, Unverständnis, Fassungslosigkeit. Und Wut. Denn
ich wollte mich heute ja freuen. Für mich. Also lasse ich das Handy über den Tag in der Tasche. Ich zwinge mich dazu, nicht auf die Hilfsgesuche, Videos, Sachspendenanfragen und
Nachfragen über Betroffene einzugehen. Selbstschutz, ich brauche diesen Tag voller Freude für mich und meine Entscheidung, ich will egoistisch sein. Und schaffe es auch. War die Therapie also doch nicht
umsonst.
Ein paar Tage vergehen, die Bilder der Zerstörung häufen sich, man begreift ganz langsam, dass da etwas ganz Furchtbares passiert ist. Ich möchte etwas tun, fühle mich hilflos, weil ich keine Millionen spenden kann, damit sich wenigstens eine Familie dort ein neues Haus aufbauen kann und versorgt ist. Das taube Gefühl kennen viele meiner Liebsten, auch sie sind sprachlos, wollen unterstützen, aber wissen oft nicht wie.
Ich fahre ein paar Tage weg, besuche zwei der besten Menschen des Universums und tanke Liebe. Ich
bin unbeschwert, habe Kohldampf wie sau und genieße meine freie Zeit. Meine verdiente freie Zeit.
Immer wenn ich in einer Social-Media-App scrolle sehe ich die Bilder und unzählige Videos, die die
Lage im Ahrtal und weiteren betroffenen Orten zeigen. Ich hab mich schon daran gewöhnt, nach einer Woche ist es Alltag. Ein
fader Nachgeschmack bleibt trotzdem.
Und dann sehe ich einen Aufruf einer lokalen Foodtruckkollonne, die dank Spenden einer (wohlgemerkt amerikanischen) spendenbasierten Organisation Essen ausgibt. Sie suchen Freiwillige, die sich mit Ihnen auf den Weg machen und den Betroffenen sowie Hilfskräften die ein oder andere warme Mahlzeit ausgeben. Rares Gut dort, ganz ohne Strom, fließendes Wasser, im Dreck, nur noch mit den Kleidern unterwegs, die man vor mittlerweile zehn Tagen nach der Nacht des Unglücks trug.
Ich höre in mich hinein, sehe nach dem Drachen, der sich die letzten
Tage wirklich nur gelegentlich blicken ließ. Er zuckt mit den Schultern. “Du bist die Empathische von uns.” Ich verdrehe die Augen, geeenau, Heulsuse. Halte ich das aus? In ein Katastrophengebiet zu fahren,
mit mir total fremden Menschen, den ganzen Tag? Die Situation an sich, Menschen mit Essen zu versorgen, ist mir ja nicht fremd, auch viele Menschen kann
ich gut handeln. Aber alle, die wirklich vor Ort waren oder sind, berichten von
kriegsähnlichen Zuständen. Kann ich das aushalten? Nach sechs Monaten Achterbahnfahrt mit gleichzeitigem Kampf gegen und mit dem Drachen? Bin ich da stark genug für? Keine
Ahnung, denken wir beide. Aber ich will so unbedingt etwas tun. Ich möchte so gern
helfen.
Also melde ich mich bei den ehrenamtlichen Versorgertrucks und gebe an, dass ich zwei Tage in der kommenden Woche dabei bin. Und der Drache richtet sich auf, schaut mich an und schnaubt. Dass ich mutig bin findet er wohl gar nicht gut, zugetraut hat er es mir auf jeden Fall nicht.
Am Abend vor dem ersten Einsatz tobt er sich etwas aus mit seinen Zweifeln an mir, wirft mir vor, dass ich nach all der Zeit eh nicht mehr weiß, wie man Menschen bedient oder wie man sich in fremden Gruppen verhält. Er sagt mir nochmal wie seltsam ich sein kann, dass ich mir viel zu viel zumute und dass ich niemand bin, den man sich bei solchen Situationen an seiner Seite wünscht.
Am nächsten Tag
klingelt der Wecker um sechs Uhr, Abfahrt ist um kurz nach neun in einem Gewerbegebiet in Richtung Einsatzort. Auf
geht’s.
Der Weg führt über Landstraßen und durch Dörfer, die
Gefahr, auf der Autobahn in den Stau aus Helfern und Helferinnen zu
kommen, ist zu hoch. Durch unsere Kenntlichmachung der Organisation und
unsere überlebenswichtige Beladung passieren wir die freundliche
Polizeikontrolle am Ortseingang, die Straßen sind voll von Traktoren, Lastkraftwagen und anderen motorisierten Fahrzeugen, die sich durch Müll
und Dreck kämpfen.
Die Straße ist komplett von Schlamm überzogen, der in der Sonne der
letzten Tage schon steinhart geworden ist. Alle Häuser an der Straße sind bis zum ersten Obergeschoss damit überzogen. Umso näher wir an das Stadtzentrum heranfahren, desto größer
werden die Krater, die das Wasser in die Straße geschlagen hat. Der Transporter kommt nur mühsam voran, Verkehrsregeln gelten hier keine. Aus dem Auto
heraus sehe ich, wie Menschen jeden Altes Eimer voll Schlamm, Schutt und Unrat aus ihren Häusern, oder dem, was davon noch übrig ist,
tragen. Vor
einigen Ruinen stehen Stromgeneratoren, es herrscht eine ohrenbetäubende Geräuschkulisse. Ein Mädchen in viel zu großen Gummistiefeln trägt ein Sixpack Wasser hinter ihrem Bruder her. Sie ist
vielleicht acht Jahre alt, er im Teenageralter. Er schiebt ein Fahrrad durch den zentimeterhohen Sumpf, der sich neben den
Bordsteinen gebildet hat, weil die Hochdruckreiniger das Einzige sind, was Gegenstände vom Schlick
befreit. Im
Fahrradkorb liegen eine Kreissäge und Konservendosen.
Bis wir an unserem Standort angekommen sind fühle ich mich wie in einem Film. Ich bin recht still, versuche bloß aufzunehmen, ohne überwältigt zu werden. Diese Bilder kennt man sonst nur von anderen Kontinenten.
Das Team von uns ist toll, wir verstehen uns alle gut und packen mit an. Beim
Aufbau des Trucks merkt man schon, dass hier in den letzten Tagen eine kleine Gemeinschaft entstanden ist. Alle werden gegrüßt, man kennt sich beim Namen, wurde schon sehnsüchtig
erwartet. Denn wir machen frischen Kaffee. “Das flüssige Gold hier.”, lacht der Manager des Trucks. Weil Wasser hier aus keinem Hahn mehr fließt, besorgen wir
uns welches in Flaschen an einer nahgelegenen Grundschule. Ein zentraler Anlaufpunkt für
Hilfsgüter und Lebensmittel. Der Hausmeister hat hier das Sagen. Während er uns zu verstehen gibt,
dass wir uns an den Palettenlieferungen bedienen können, diskutiert er ununterbrochen
am Handy.
Als die erste Kanne Kaffee befüllt wird kommen zwei junge
Männer zu
uns und freuen sich über den heißen Energiebooster. Sie fragen nach dem Mittagessen, wir antworten Currywurst und Kartoffel-
oder Krautsalat. Sie freuen sich, seit der gestrigen Essensausgabe gab es nichts Warmes in den Bauch. Ihr Dialekt verrät, dass sie aus
dem Süden von Deutschland kommen, übernachten können sie in einem Wohnwagen, der einem der beiden gehört. Einen Stromgenerator haben sie sogar auch mitgebracht, den bekam eine Anwohnerin,
“weil sie ihn ja dringender braucht.”
Selbstlosigkeit ist hier ungeschriebenes Gesetz,
das merke ich schon in den ersten 30 Minuten.
Nach ein paar Stunden habe ich mich nicht nur an den Anblick der schweren Gerätschaften, der hochhaushohen Müllhalde gegenüber und den Matsch überall gewöhnt, auch der modrige Geruch nach vergammelten Lebensmitteln und Kot macht mir fast nichts mehr aus. Keine Ahnung, wie es im Zweiten Weltkrieg war, aber ich stelle mir schon vor, dass diese Zustände hier ähnlich sind.
Beim Mittagessen herrscht rege Nachfrage, manche nehmen gleich für ihre gesamte Hilfsmannschaft Essen mit und wir packen Tüten voll mit Schalen und Besteck und wünschen guten Appetit und nur das Beste. Alle sind so dankbar. Niemand ist unfreundlich, kein schlechtgelauntes Gesicht steht vor uns, nur offenherzige Menschen, die mit uns teilen, dass wir alle an diesem Ort sind und unser Bestes geben. Die hungrigen Bäuche kommen aus ganz Deutschland, sogar Syrien und Polen. In jedem Dialekt und mit verschiedensten Akzenten wird sich für unseren Einsatz bedankt. Dabei mache ich gar nichts, denke ich viel. Ich steh hier rum und schenk dir Kaffee ein. Aber mit der Zeit realisiere ich, dass wir viel mehr tun, als nur für die Versorgung da zu sein. Wir sind Anlaufstelle für eine Kaffeepause, der Kiosk im Veedel total naiv gesagt. Bei uns treffen Anwohner:innen auf Helfer:innen der ersten Stunde, oder Nachbar:innen, die man schon länger nicht gesehen hat, weil man vor lauter Schlamm gar nicht weiß, wie die Tage im Keller vergehen. Ein Anwohner erzählt mir von den Jungs aus Altendorf, die mit ihren Baggern den Autofriedhof, einen Parkplatz ganz in der Nähe, befüllen. Überall diese Autos. Von Wassermassen zerstörte Scheiben, ineinander gedrückt und übereinander gestapelt liegen sie am Straßenrand, in Häusern, sogar auf dem Menschenfriedhof. Ich lehne zum Zeitpunkt des Gesprächs an dessen Mauer, unser Standort ist direkt daneben, nur noch ungefähr zehn Meter stehen von ihr. Dahinter bietet sich ein makaberes Bild von zerstörten Grabsteinen, viele Gräber wurden unterspült, die letzte Ruhestätte wurde zum Abbild des Chaos. Der nette Mann blickt auf diesen traurigen Fleck Erde und sagt: “Ach, ich geh mal schauen, ob mein Kumpel noch da liegt. Der ist schon vor ein paar Jahren hier eingezogen.”, dreht sich um und steigt über die Trümmer, die mal die Abgrenzung zum Gehweg bildeten. Noch bevor ich genau weiß, ob ich seinen kleinen Scherz mit einem Lachen quittieren möchte steht ein älterer Mann vor mir, bittet nach einem Becher Kaffee und bedient sich am Zucker. Auch er blickt auf den Friedhof, seine Augen füllen sich direkt mit Tränen. “Nee, da kann ich nicht hin, da liegen all meine Ahnen.”, murmelt er. Ich möchte gerne meine Hand ausstrecken und seinen Arm drücken, so wie alte Menschen es oft bei einem selbst machen. Ich spüre seine Trauer, nicht weil es meine ist, aber weil ich das eben kann. Mich hineinfühlen, empathisch sein.
Im Laufe des Tages
erkennt man schon den ein oder anderen Kaffeejunkie und auch ich lerne die Pausierenden etwas besser kennen. Ganz besonders ins Herz schließe ich einen Maschinenführer, der hier seit Tag
2 hilft und vor allem organisiert. Das ist etwas, das ich in den letzten Jahren sehr
häufig erlebt habe: Nicht die Führungskräfte, die eigentlichen Entscheidungsträger, sind diejenigen, die sich Kümmern. In Krisenzeiten sind es die unteren Reihen der Hierarchie, die
wirklich anpacken und in der Lage sind, ein Netzwerk innerhalb kürzester Zeit auf- und auszubauen. So wie hier. Uns fehlt ein Stromkabel, das würde uns das Erhitzen der
heißersehnten Bolognesesoße wirklich schwer machen. Aber kein Problem, da wird schnell mal telefoniert,
eine Nachricht in eine Gruppe geschickt, bei ihm oder ihr mal nachgefragt. Überhaupt
kein Ding. Weil alle machen.
Das können die Arbeiter und
Arbeiterinnen hier einfach: Machen. Nicht immer nur reden, überlegen,
Schuld zuweisen und meckern, sondern machen.
Am Truck geht es nicht vorrangig um Schuld, nicht bei der Essenausausgabe,
nicht beim Kaffee nach zehn Stunden härtester körperlicher Arbeit im zerstörten Heim. Hier geht es um Zusammenhalt.
Neben Essen und dem “flüssigen Gold” haben wir auch andere Hilfsgüter,
ganz besonders erfreuen sich die Menschen an den Tageszeitungen. “Endlich mal wieder Nachrichten!”, ruft eine Frau und nimmt sich gleich zwei verschiedene mit, um mehr Infos zu
lesen. Ich lache und drücke ihr noch eine Tüte Haribo in die Hand. “Hier, die haben wir heute auch dabei, als kleiner Nachtisch oder beim
Zeitunglesen.” Sie lächelt und bedankt sich, nimmt dabei meine Hand. “Ihr tut so viel für uns, ganz großartig.” Der Kloß in meinem Hals verzerrt meine Stimme. “Wir machen das
alle sososo gerne.”, versichere ich.
Irgendwann stehen zwei Postbotinnen vor mir, in voller Montur, mit Schlamm überzogen. “Bekommen wir hier auch Kaffee?” fragt eine freundlich. “Hier bekommen alle Kaffee.”, lautet meine Antwort und ich stelle zwei Becher auf den Stehtisch. Sie kramt in ihrer Jackentasche. “Du bekommst...?” fragt sie suchend. Ich bin verwirrt. Meint sie Geld? “Gar nichts.”, sage ich fassungslos. “Hier muss doch niemand etwas bezahlen...?”
Das war nicht das
letzte Mal, dass mir jemand Geld für Kaffee, Essen oder für die Trinkgeldkasse geben wollte. Natürlich ist es immer mit den besten Absichten hingehalten worden, aber
wenn eine Sache bei uns keine Rolle gespielt hat und spielt, dann Geld. Genauso wenig wie Neid oder Selbstsucht.
Und das meine ich auf diesen kleinen Platz bezogen, an dem wir mit
dem Foodtruck stehen und den Menschen einen Ort bieten, an dem man Kraft
tanken und kurz verschnaufen kann.
Natürlich spielt Geld eine unabdingbare Rolle bei allem, aber eben
nicht in
diesen Momenten der Hilfe, nicht bei der Zwischenmenschlichkeit, die man sich zwischen Keller
leerschippen und Überresten sortieren gönnt. Etwas, dass mir erst im Nachhinein sehr an meiner Hilfe gefiel: Nicht über Geld
nachzudenken.
Erst am Abend fällt mir auf, dass ich auch nicht viel über Corona nachgedacht habe. Ich war anderen Menschen ganz nah, vielen Menschen, sehr vielen Menschen. Als ich an einen Haushalt Essen geliefert habe, hat der Empfänger mich einfach dankbar in den Arm genommen. Und ich habe ganz selbstverständlich zurückgedrückt und mein Beileid ausgesprochen. Denn das zählt gerade viel mehr als die Angst vor dem Virus: Menschlichkeit. Und in Zeiten dieser unbegreifbaren Erschütterung des Lebens bedarf es Nähe, Zusammensein und Gemeinschaft. Natürlich tragen viele Leute Masken. Aber diese dienen eher dazu, sich vor dem teils giftigen Staub zu schützen, der alles und jede:n überzieht, der oder die sich länger als zehn Minuten dort aufhält, als vor Coronaviren.
Nach dem zweiten Tag biete ich meine Hilfe für einen weiteren Tag
an. Ich
schäme mich fast ein bisschen, aber mir tat das Helfen dort gut. Nach langerlanger Zeit wieder Teil einer Gemeinschaft sein, eine Aufgabe mit Sinn für das Gemeinwohl haben. Und ich möchte nochmal nach dem
älteren Ehepaar sehen, das ich auf meinem Streifzug durch Schutthaufen, Schlammfelder und an Autowracks vorbei kennengelernt habe. Sie hatten bei meinem ersten Besuch über eine Woche keine warme
Mahlzeit zu sich genommen, aus ihrem Haus raus wollen sie aber auch nicht, trotz der unzumutbaren Zustände. Ich verstehe sie so gut. Wer will schon sein Heim aufgeben. Auch sie sind
unglaublich dankbar, erzählen davon, wie ihnen die Flasche Cola den Tag “versüßt” (ihr Scherz, nicht meiner). Mein Herz wird ganz warm, selbst jetzt schaffen es alle noch, den
Humor beizubehalten.
Am dritten Tag
begleitet mich sogar ein Herzensmensch, sie dabei zu haben ist richtig schön. Zusammen bereiten wir den Kaffee vor, sie macht die gleichen Erfahrungen wie ich am ersten Tag: Irgendwie kennt
man sich und nimmt sich ganz selbstverständlich in den Arm,
wenn die
Maschinenführer ihren ersten Becher trinken kommen. Auch zwei junge Frauen stehen bei uns, in ihren Gesichtern sieht man
die Anstrengung der letzten Wochen. Kraftlos lassen sie die Schultern hängen, in einer Plastiktüte haben sie neue Handschuhe und eine kleine Schaufel,
vielleicht aus der offenen Garage ein paar 100 Meter die Straße runter, dort lagert alles Mögliche zur freien Verfügung.
Der heiße Kaffee tut ihnen gut, nach einigen Schlucken lächeln sie
sogar verhalten. Als sie sich umblicken schauen sie auf den Friedhof nebenan, die Bundeswehr
hat heute angefangen, einen Sichtschutz aufzustellen. Die Gräber müssen gesichtet, gegebenenfalls ausgesaugt und neu arrangiert werden, erzählte uns zuvor ein Truppenmitglied. “Das war echt so schlimm bei
uns Zuhause.”, beginnt eine der beiden zu erzählen. “Alles wurde aus dem Keller rausgespült und auch im Erdgeschoß stand
das Wasser. Aber das schlimmste waren die vielen Leute im
Garten.”
Es
dauert ein paar Sekunden, bis wir Umstehenden realisieren, was sie meint. Mein Herz setzt für einen Moment aus.
Diese
Geschichten hört man viel, wenn man mit Betroffenen spricht. Wenn sie erzählen können und man geduldig zuhört. Es ist unsagbares Leid passiert und das ist dort allgegenwärtig. Aber das ist
nicht das, was dort vorherrschend ist, nicht nach meiner Empfindung.
Ich bin aus diesem Ohnmachtsgefühl heraus dorthin mitgefahren, das
mich seit den ersten Bildern der Katastrophe begleitet hat. Ich wollte so unbedingt etwas tun. Und ich habe geholfen. Nicht mit Spaten, nicht mit Baggerfahren, aber mit etwas,
das ich kann: Menschen verpflegen, ihnen ein offenes Ohr bieten, sie auch mal
in den Arm nehmen. Ich habe keine Berge versetzt oder Spendengelder zusammengesammelt.
Aber ich habe mit meinen Ressourcen geholfen und selbst dabei so viel geschenkt bekommen. Und für mich ist klar, dass ich wieder mitfahren
werde.
Selbstlosigkeit und anderen Menschen zu helfen tut gut, man kann jetzt streiten, ob dies dann altruistisch ist oder ob nicht doch der Egoismus dahintersteckt, sich selbst besser zu fühlen. Keine Ahnung. Ich kann nur sagen, dass ich meine freie Zeit aus tiefstem Herzen gerne damit verbracht habe, für andere Menschen Kaffee zu kochen, Essen auszugeben und dafür zu sorgen, dass sie für ein paar Minuten Freude empfinden.
Die Rückkehr abends
nach Hause ins total intakte Heim war etwas surreal, das muss ich zugeben. Nicht nur sauber, auch still ist es in meinen vier Wänden und ich kann einfach so in die Dusche steigen, den Hahn
aufdrehen und allen Schlamm, allen Dreck, den ganzen Staub von mir abwaschen. Die Betroffenen können das nicht. Auch
viele Helfer:innen haben nur begrenzte Möglichkeiten für ordentlichen Schlaf und
eine heiße Dusche.
Es dauerte etwas, aber ich fand ein Gleichgewicht. Mein schlechtes Gewissen bringt niemanden weiter,
diese selbstzerstörerische Übernahme meiner empathischen Seite
hat mich zu früheren Zeiten richtig krank gemacht. Aber das brauche ich nicht mehr, ich weiß jetzt, dass ich nach meinen
Möglichkeiten Hilfe geleistet habe. So wie viele andere Menschen. Jede:r zu eigenen Bedingungen.
Und Hilfe ist nach wie vor das Wichtigste.
Den Menschen vor Ort wird am meisten von Freiwilligen
geholfen, dass hier staatliche Hilfe an Bürokratie und Wahlkampftaktik scheitert ist
eine Schande.
Aber ich möchte diesen Text nicht mit negativen Vibes beenden, ich möchte
euch meinen Eindruck des herzerwärmenden Zusammenhalts mitgeben. Zumindest trifft das für diesen süßen Ort an der Ahr zu, an dem ich nun
ein paar Tage vor Ort sein durfte. Wo genau spielt gar keine große Rolle, es
geht darum,
dass es gut war, zu helfen. Anderen Menschen zu helfen ist immer gut und kann einen selbst nur weiterbringen. Ganz egal ob dies nun mit Geld, Muskelkraft oder sonst etwas
geschieht.
Gerade nach diesen letzten Monaten des Abstands habe ich fast ein
bisschen vergessen, wie sich Gemeinschaft anfühlt. Und das ist aber doch das, was ich so am Leben liebe: Dass ich es mit anderen teile, dass Menschen mir Gutes tun und ich
dies zurück- und weitergebe. Ich habe mich zuletzt sehr häufig einsam gefühlt. Aber das ist wirklich das letzte Gefühl, das ich hatte, als ich
dort war
und auch wieder nach Hause fuhr.
Das hier ist keine romantische Reiseanekdote, ich möchte nicht einen verklärten Rückblick auf tolle Tage bieten. Kein Bild, kein Video kann wirklich wiedergeben, was da passiert ist. Nur mit eigenen Augen begreift man das Ausmaß der Zerstörung, das ist keine Übertreibung. Tatkräftige und finanzielle Hilfe werden noch viele weitere Monate und Jahre benötigt und ich möchte hiermit nochmal jede:n bitten, das Mögliche zu tun. Die Menschen danken es mit einer Wärme, die den Glauben an die Menschlichkeit zurückgeben kann. Wenn man denn das eigene Herz auch öffnet.
Ein paar Möglichkeiten für Hilfe findet ihr hier:
Hilfe für betroffene Winzer an der Ahr
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