Vor mir sitzt ein Drache.
Einer, der mich jahrelang verprügelt hat.
Ein Drache, dessen Schuppen meine Trauer, meinen Selbsthass und das Gefühl widerspiegeln, nichts zu sein auf dieser Welt.
Ein Drache, der schon früh bei mir eingezogen ist, den ich mit Anfang 20 aber erst so richtig kennenlernte.
Über ein Jahrzehnt haben wir gekämpft, hat er mich niedergemacht, hat mich angebrüllt und mein Herz mit seinen riesigen Pranken fast zerfetzt. Über zehn Jahre hat er Selbstzweifel gespuckt, meinen Kopf mit Sirenen gefüllt.
Vor mir sitzt ein Drache.
Heute ist er kleiner, sieht nicht mehr so gefährlich aus. Sein Anblick widert mich immernoch an, aber ich habe weniger Angst.
Nicht weil er kleiner ist, sondern weil ich größer bin. Ich bin größer als er.
2022
Letztes Jahr im Juli stand mein Herz kurz still an einem warmen Montagmittag.
Einem meiner wichtigsten Menschen ging es nicht gut. Gar nicht gut.
Die Angst, diesen Menschen zu verlieren, fraß mich zwei Wochen fast auf. Kein Essen, fast kein Schlaf, allein sowieso nicht, nur Maßnahmen notiert, die in jedem erdenklichen Fall umgesetzt werden sollten.
Angststörung auf ganz anderem Level.
Auf dem Weg aus dem Bus heraus stand er plötzlich vor mir, an der Haltestelle, als wartete er auf mich, nicht auf den Bus.
Da fiel mir auf, dass zwar die Angststörung berechtigterweise im Dreieck sprang, aber der Drache tatsächlich erstaunlich wenig zu der Situation beizutragen hatte.
Wir gingen gemeinsam den Weg zum Krankenhaus, er war ganz still, trottete mit hängenden Klauen neben mir her.
"Wieso so wortkarg?" fragte ich ehrlich interessiert. Immerhin hatte er die perfekte Gelegenheit zum ausrasten. Zum Schuld zuweisen. Zum ängstlich alles in Flammen setzen.
"Was soll ich sagen? Ist ne richtig große Scheiße gerade.." antwortete er patzig. Ah, doch noch der alte.
"Ich hab beschlossen, dass es so nicht weitergeht." Ich bezog mich auf die letzten Tage, die für mich ein Strudel aus Sorge, Verlustangst und dem Wunsch nach einem Medizinstudium waren. Letzteres, weil ich vielleicht genau all das studiert haben könnte, was man jetzt an Fachwissen bräuchte, damit dieses bodenlose Gefühl der Ohnmacht endlich stoppte. Machtlosigkeit. Man muss wildfremden Menschen das wichtigste Leben um einen herum anvertrauen, man muss hoffen, dass alles gut wird und alle heile aus der Situation herauskommen. Was eine Scheiße.
"Ich hab beschlossen, dass es so nicht weitergeht. Ich werde jetzt runterkommen, durchatmen, und abwarten. Step by step. Und solange man nichts gegenteiliges weiß, wird alles gut."
Er nickt nur.
Als ich durch die automatischen Türen der Empfangshalle gehe, ist er weg. Nicht für immer, nicht weg weg. Aber gerade nicht mehr hier. Ich atme durch. Wird schon gut werden.
Zurück in 2023
"Und wieso genau geht es Ihnen so gut?" fragt der Mann tippend, ohne mich dabei anzuschauen.
"Weil ich auf mich aufpasse," erwidere ich etwas gereizt, obwohl ich es gar nicht will. Ich spüre, wie Zorn in meinem Bauch zu dem gewohnten warmen Knoten wird. Durchatmen, Kiki.
Der Gynäkologe hält inne und schaut über den großen Schreibtisch zu mir. "Also ist das kein ungesundes High gerade, ein über-Glück sozusagen?" Es ärgert mich, dass er meine Verfassung in Frage stellt, rational weiß ich aber, dass es seine Aufgabe ist, nachzuhaken.
"Nein, kein ungesundes High vor einem Down, mir geht es wirklich richtig gut."
Dass ich das mal sagen und auch so meinen würde, dass es mir wirklich richtig gut geht, hätte ich mir in den letzten 12 Jahren nicht vorstellen können.
Natürlich ging es mir zwischenzeitlich auch gut und ich konnte das Leben genießen, aber das, was ich seit nun mehr als einem Jahr spüre, DAS ist glücklich sein und gut fühlen.
Zwölf verdammte Jahre habe ich dafür gearbeitet - und dass ich das weiß, dass ich das anerkennen kann und dass ich Stolz empfinde, das ist die Errungenschaft.
Dieser Moment letztes Jahr im Juli mit dem Drachen - haltet mich für verrückt, aber manchmal sehe ich ihn wirklich genau vor mir - da bin ich gewachsen. Natürlich nicht plötzlich, es war ein Prozess über 12 Jahre, aber da habe ich es zum ersten Mal selbst gesehen. Das Durchstehen dieser schrecklichen Erfahrung einer unbeschreiblichen Angst im Juli 2022 war mein Beweis, wie weit ich gekommen bin. Dass ich mich auf mich verlassen kann.
Natürlich habe ich das weltbeste Sicherheitsnetz um mich herum, ich liebe euch, ihr wisst das.
Aber ich habe dafür geackert. Ich habe Blut, Schweiß und Tränen geopfert, habe mich aufgerappelt und gekämpft. Ich habe so viel gelernt. Ich habe so viel immer und immer wieder in Frage gestellt, mich gebessert, akzeptiert. Ich habe mich übergeben, geweint und mich geliebt.
Der Drache schickt die letzten Tage die rechte Hand vor, Übelkeit zeigt sich und vermiest die Tage.
Ich habe nicht gut aufgepasst, da bin ich ehrlich. Sorgen gibt es noch und wenn man die nur wegschiebt, dann motzt der Drache oder er schickt Helferlein. Ich weiß das und konnte doch nicht anders, als ein paar Tage zu viel Ablenkung zu suchen.
Wie ich hier gerade so am Rhein sitze und diese Zeilen in mein Handy tippe, macht sich neben dem flauen Gefühl auch der Stolz bemerkbar. Ich meine alle Worte so, wie sie hier stehen. Ich bin größer.
Natürlich nervt die Übelkeit, ich würd gern so reinhauen wie die letzten zwölf Monate. Würde gerne andere Prioritäten setzen als mich selbst. Aber ich bin's mir wert.
Der Drache wird nie verschwinden, ich muss immer daran denken, dass da ein Monster ist.
Aber er hat nicht mehr die Macht, die er mal hatte. Ich muss ihn nicht unnötig provozieren, ist jetzt nicht so, als fehlten mir unsere schmerzvollen Auseinandersetzungen.
Aber ich kann durchatmen, mein Herz schlägt zum leichten Beat der Audiodatei, es ist frei, warm und erfüllt.
Ein ganzes Jahr habe ich den Drachen nicht sehen müssen, die Übelkeit war auch kaum nennenswert. Er hat so tief geschlafen, dass er ganz oft keinen Raum brauchte, nicht mal in Gedanken.
Und dieses eine Jahr habe ich mir geschenkt. Ich hab das erarbeitet.
Jetzt gerade erstarre ich nicht bei dem Gedanken, dass er eines Tages wieder wach wird. Denn tja, so ist das Leben, ups and downs und beides ist bei mir intensiv. Aber ich bin der unbeschreiblichen Überzeugung, dass es nicht mehr so schlimm mit ihm werden kann.
Ich bin stark, ich bin klug und ich bin groß. Und da kommen noch einige tolle, glückliche Jahre.
Xoxo,
Große Kiki